|
|
| (5 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt) |
| Zeile 4: |
Zeile 4: |
|
| |
|
| In der ''Morgenröte'' skizzierte Nietzsche erstmals Umrisse seines gedanklichen Konzeptes vom [[Wille zur Macht|Willen zur Macht]], das er 1883–1885 in seinem Werk [[Also sprach Zarathustra]] ausführlicher entwickelte. | | In der ''Morgenröte'' skizzierte Nietzsche erstmals Umrisse seines gedanklichen Konzeptes vom [[Wille zur Macht|Willen zur Macht]], das er 1883–1885 in seinem Werk [[Also sprach Zarathustra]] ausführlicher entwickelte. |
|
| |
| == Inhalt ==
| |
| Das in fünf Bücher gegliederte Werk besteht aus 575 Aphorismen mit einem Umfang von wenigen Zeilen bis zu einigen Seiten.
| |
|
| |
| In der ''Morgenröte'' untersuchte Nietzsche Leben und [[Kultur]] des Menschen in einer umfassenden, umwertenden [[Symptomatologie]], die er in der Vorrede als „Arbeit der Tiefe“ bezeichnete.<ref name="Ottmann.104">Henning Ottmann (Hrsg.): ''Nietzsche Handbuch, Leben – Werk – Wirkung''. Metzler, Stuttgart / Weimar 2000, S. 104.</ref> Dieser fortgesetzte Prozess des Hinterfragens führte ihn zu einer umfassenden Destruktion des Vertrauens, „auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, […] obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte.“ Die Moral als Grundlage der Kultur erscheint als [[Kirke]], als „Meisterin der Verführung.“<ref name="Kritische.13">Friedrich Nietzsche: ''Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft''. Morgenröthe, Vorrede. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): ''Kritische Studienausgabe'', Band 3. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 13.</ref> So schickte sich Nietzsche an, „in die Tiefe zu steigen“ und „unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.“<ref>Friedrich Nietzsche: ''Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft''. Morgenröthe, Vorrede. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): ''Kritische Studienausgabe'', Band 3. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 12.</ref>
| |
|
| |
| Wie in anderen Werken spielte der „Dichterphilosoph“ auch hier mit unterschiedlichen literarischen Formen, verzichtete aber auf das sonst in seinen Werken vorkommende [[Lyrik|lyrische]] Gedicht.
| |
|
| |
| Auch wenn Nietzsche an vielen Stellen des Werkes moralische und religiöse Vorstellungen wie im vorhergehenden Buch ''Menschliches, Allzumenschliches'' noch genetisch-historisch ableitete, verschob sich die Grundlage seiner Argumentation: Hatte er vorher die Wesensgehalte der Kulturerscheinungen durch Ursprungsforschung zu ergründen versucht, trat dieser Ansatz nun zugunsten einer psychologisch-[[Phänomenologie|phänomenologischen]] Verfahrensweise weiter zurück. Habe man früher angenommen, das [[Heil]] des Menschen hänge von der Einsicht in den Ursprung der Dinge ab, sehe man jetzt, dass „unsere Werthschätzungen und Interessiertheiten, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren […] Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu: während das Nächste, das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel […] aufzuzeigen“ beginne.<ref>Friedrich Nietzsche: ''Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft''. Morgenröthe, Erstes Buch, 44. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): ''Kritische Studienausgabe'', Band 3. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 52.</ref>
| |
|
| |
| Während für [[Immanuel Kant]] die ''Anschauungsformen'' ([[Transzendentale Ästhetik]]) und ''Kategorien'' des Verstandes die Grenzen und Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis bildeten, sah Nietzsche sie in der Organisation des [[Leib]]es und des Erkenntniswillens, die in der menschlichen Natur verankert seien. So drängte sich für ihn die Frage auf, ob und wie moralische Handlungen überhaupt möglich sind. Da dem Subjekt seine ''Innenwelt'' unbekannt sei, sein [[Bewusstsein]] somit die Folgen des Handelns nicht hinreichend überblicken und einschätzen könne, sei es nicht möglich, sie moralisch angemessen zu beurteilen.<ref name="Ottmann.104" />
| |
|
| |
| == Entstehung und Vorrede ==
| |
| Im Winter 1880/81 verfasste Nietzsche die Reinschrift unter dem Arbeitstitel „Die Pflugschar. Gedanken über die moralischen Vorurtheile“ und bereitete, unterstützt von [[Heinrich Köselitz]], bis Mitte März 1881 das Druckmanuskript vor.
| |
|
| |
| 1887 erschien die zweite Ausgabe, versehen mit einer 1886 verfassten Vorrede. In ihr beschrieb er seine Arbeit als die eines „Unterirdischen“, eines „Grabenden, Untergrabenden“, dessen Trost nach langer Finsternis darin bestehen könnte, irgendwann, seinen „eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigene Morgenröthe“ zu haben.
| |
|
| |
| Deutlich stellte Nietzsche auch in ihr die Moral in den Vordergrund seiner Kritik, eine Moral, die über „jede Art von Schreckmitteln“ gebiete, „um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten.“ Sie verstehe sich auf jede „Teufelei von Überredungskunst“, wisse zu begeistern und könne den kritischen Willen lähmen, ja gegen „sich selbst … kehren“, dass er sich „gleich dem Skorpione, den Stachel in den eigenen Leib sticht.“<ref name="Kritische.13" />
| |
|
| |
| Alle Philosophen hätten bisher unter ihrem verführerischen Einfluss und in dem naiven Glauben gearbeitet, von Gewissheit und [[Wahrheit]] geleitet zu sein, letztlich aber, um das „majestätisch-sittliche Gebäude“ zu errichten, wie Immanuel Kant es bezeichnet hatte. Kant sei mit seiner [[Schwärmerei|schwärmerischen]] Absicht, die Grundlage der Moral baufest zu machen, ein typischer Vertreter seines Jahrhunderts. Wie andere sei auch er von der „Moral-Tarantel“ [[Jean-Jacques Rousseau]] gestochen worden, und der moralische [[Fanatismus]] sei ihm ebenso wenig fremd gewesen wie [[Maximilien de Robespierre|Robespierre]].<ref>Friedrich Nietzsche: ''Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft'', Morgenröthe, Vorrede. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): ''Kritische Studienausgabe'', Band 6. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 14</ref>
| |
|
| |
| == Hintergrund ==
| |
| Da der ''Morgenröte'' im Unterschied zu ''Menschliches, Allzumenschliches'' zunächst wenig öffentliche Resonanz beschieden war, schrieb Nietzsche am 14. August 1881 seinem Freund Köselitz resigniert, dass keiner etwas durch ihn erlebt, keiner sich einen Gedanken über ihn gemacht habe. Was man an Achtbarem und Wohlwollendem über ihn sage, sei ihm sehr fern. Auch [[Jacob Burckhardt]] habe nur ein „kleinlautes, verzagtes Brieflein“ geschrieben.<ref>Zit. nach: Henning Ottmann (Hrsg.): ''Nietzsche Handbuch, Leben – Werk – Wirkung''. Metzler, Stuttgart / Weimar 2000, S. 104</ref>
| |
|
| |
| Nietzsche empfahl seiner Schwester [[Elisabeth Förster-Nietzsche]], die ''Morgenröte'' unter einer persönlichen, auf den Autor bezogenen Perspektive zu lesen, von der er sonst allen anderen Lesern abraten würde. Sie solle alles heraussuchen, was die persönlichen Wünsche ihres Verfassers verrate.<ref>Friedrich Nietzsche, ''Brief an die Schwester'', Sils-Maria, Mitte Juli 1881. In: ''Briefe'', ausgewählt von Richard Oehler. Insel, Frankfurt 1993, S. 242</ref>
| |
|
| |
| Einem Brief an [[Karl Knortz]] zufolge waren dem Autor die ''Morgenröte'' und die ''Fröhliche Wissenschaft'' die sympathischsten und persönlichsten seiner mittleren Bücher.<ref>Friedrich Nietzsche, ''Brief an Professor Karl Knortz in Evansville'', Sils-Maria, 21. Juni 1888. In: ''Briefe'', ausgewählt von Richard Oehler. Insel, Frankfurt 1993, S. 348</ref>
| |
|
| |
| In seiner Spätschrift [[Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert|Götzen-Dämmerung]] stellte Nietzsche die in der ''Morgenröte'' kritisierten Autoren Rousseau („oder die Rückkehr zur Natur in impuris naturalibus“) und Kant („oder cant als intelligibler Charakter“) neben die anderen „Unmöglichen“ wie etwa [[Friedrich Schiller|Schiller]], den er als „Moral-Trompeter von Säckingen“ bezeichnete.<ref>Friedrich Nietzsche: ''Götzen-Dämmerung''. In: ''Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo''. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.): ''Kritische Studienausgabe'', Band 3. Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 111</ref>
| |
|
| |
| == Bedeutung ==
| |
| Wenn Nietzsche im [[Sensualismus]] und [[Phänomenalismus]] die wichtigsten Traditionsbestände der [[Europa|europäischen]] [[Geschichte der Philosophie|Philosophiegeschichte]] festhält, hat dies für seine Moralphilosophie zwei Konsequenzen: Wie nur wenige vor ihm, weist er erstens auf den unsicheren, ja trügerischen Boden der moralischen Wertvorstellungen hin. Zweitens bestreitet er den transzendenten, interessenunabhängigen Standpunkt der moralischen Weltsicht, auf den alle Moralisten bisher bestanden haben. Philosophen wie John Searle und Jürgen Habermas zufolge verwickelt sich Nietzsche auf diese Weise in einen Widerspruch, da er, indem er eine autonome Moral bestreitet, seiner Kritik selbst den Boden entzieht. Andere Philosophen wie Richard Rorty, Michel Foucault oder Gilles Deleuze begrüßen Nietzsches Schlussfolgerungen und formulierten daraufhin pragmatische Begründungen moralischer Werturteile.
| |
| Nietzsche setzt häufig den von ihm glänzend beschriebenen [[Erscheinung]]scharakter der Natur mit ''Scheinhaftigkeit'' ([[Maya (Mythologie)|Maya]]) und [[Fiktionalität]] mit [[Illusion]] gleich. So kann man in der ''Morgenröte'' den Entwurf einer entlarvenden [[Psychologie]] sehen, die inhaltlich und stilistisch zwischen den [[Französische Moralisten|Französischen Moralisten]] und [[Arthur Schopenhauer|Schopenhauer]] angesiedelt ist und die [[Psychoanalyse]] [[Sigmund Freud]]s antizipiert.<ref>Henning Ottmann (Hrsg.): ''Nietzsche Handbuch, Leben – Werk – Wirkung''. Metzler, Stuttgart / Weimar 2000, S. 105</ref>
| |
|
| |
|
| == Literatur == | | == Literatur == |
| Zeile 43: |
Zeile 10: |
|
| |
|
| == Weblinks == | | == Weblinks == |
| | * [http://www.nietzschesource.org/#eKGWB Die Digitale Kritische Gesamtausgabe von Nietzsche im Netz] Website |
| * Ausgabe bei [http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M Nietzsche Source] | | * Ausgabe bei [http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M Nietzsche Source] |
| * [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Morgenr%C3%B6te Text deutsch] auf zeno.org | | * [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Morgenr%C3%B6te Text deutsch] auf zeno.org |
|
| |
| == Einzelnachweise ==
| |
| <references />
| |
|
| |
|
|
| |
|
| Zeile 54: |
Zeile 19: |
| {{SORTIERUNG:Morgenrote Gedanken Uber Die Moralischen Vorurteile}} | | {{SORTIERUNG:Morgenrote Gedanken Uber Die Moralischen Vorurteile}} |
| [[Kategorie:Literarisches Werk]] | | [[Kategorie:Literarisches Werk]] |
| [[Kategorie:Philosophisches Werk von Friedrich Nietzsche]] | | [[Kategorie:Philosophisches Werk von Friedrich Nietzsche|N]] |
| [[Kategorie:Aphoristisches Werk von Friedrich Nietzsche]] | | [[Kategorie:Aphoristisches Werk von Friedrich Nietzsche]] |
| | [[Kategorie:Literarisches Werk]] |
| | [[Kategorie:Literatur (Deutsch)]] |
| | [[Kategorie:Literatur (19. Jahrhundert)]] |
| [[Kategorie:Philosophisches Werk]] | | [[Kategorie:Philosophisches Werk]] |
| [[Kategorie:Aphoristisches Werk]] | | [[Kategorie:Aphoristisches Werk]] |
| {{PPA-Silber}} | | {{PPA-Silber}} |